29.02.2024

Sind wir schon auf dem Weg zu Industrie 5.0?

Industrie 4.0 ist ein schönes Schlagwort, aber vielfach noch gar nicht richtig gelebt. Da kommt mit Industrie 5.0 schon eine Version hervor. Die ist vielleicht weniger als Revolution, sondern mehr als Evolution zu verstehen und will Gesellschaft als Ganzes digital transformieren.

Auf der Hannover Messe 2011 kam erstmals der Begriff Industrie 4.0 auf, auf der CeBIT 2017 brachte der japanische Wirtschaftsverband die Idee einer Society 5.0 ein, die darauf basiert, die Gesellschaft als Ganzes digital zu transformieren, so Jochen Reiß, EAM-Vertriebsdirektor bei Hexagon ALI, in Industry of Things, in einem Gastbeitrag über Industry 5.0 als Weiterentwicklung der beiden Konzepte. Industrie 5.0 soll den Erfolg von Unternehmen ihm zufolge aus einem breiteren Blickwinkel betrachten, nämlich von dem, dass nachhaltiges Wachstum auch vom individuellen und gesellschaftlichen Wohlergehen abhängt.

 

Mensch und Maschine rücken mehr zusammen…

Dabei sollen Mensch und Maschine mehr zusammenrücken und praktisch einen Einklang bilden. Gartner hat in seinen IT-Prognosen für 2024 nicht von Industrie 5.0 gesprochen, aber manche Ideen dahinter finden sich auch da wieder. Technologische und ökologisch Nachhaltigkeit wird dem US-Marktforschungsinstitut zufolge in den kommenden Jahren eine immer wichtigere Rolle spielen, ebenso die Interaktion zwischen Mensch und Maschine oder besser zwischen Mensch und generativer künstlicher Intelligenz, welche helfen wird, die menschlichen Fähigkeiten in den Unternehmen zu erweitern. Das steckt hinter dem von Gartner und anderen Expertengruppen viel genannten Begriff Augmentierung, der sich auch in Augmented Reality (AR) wiederfindet, aber in dem Kontext damit nur am Rande etwas zu tun hat.

Wie Reiß es erklärt, umfasst Industrie 5.0 „im Wesentlichen ein Set von Prinzipien, die die Effizienz und Genauigkeit von Maschinen mit der Kreativität und individuellen Natur des Menschen verbinden“. Es ist also keine neue industrielle Revolution im Sinne revolutionär neuer Produktionsmethoden oder Energiequellen, sondern baut auf der vierten Phase auf, um die Vorteile der Automatisierung mit den Fähigkeiten zu verknüpfen, die der Mensch am Arbeitsplätz einbringen kann. Statt also nur auf Technologie zu setzen, geht Industrie 5.0 viel mehr auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten des Menschen ein, diese zu verbessern.

 

… und Nachhaltigkeit ins Zentrum

Man denke nur an ChatGPT. Die Ergebnisse, die das Sprachmodell hervorbringt, sind vielfach wirklich verblüffend und nähren die Sorge, dass KI bald auch alle höherqualifizierten Berufe ablösen könnte. Tatsächlich ist ChatGPT aber oft nur so gut wie der menschliche Input. Dem System aufzutragen, etwas über das Thema Nachhaltigkeit zu schreiben, wird vielleicht nicht ausreichen, wenn man neben dem ökologischen auch den ökonomischen Aspekt im Sinn hat. Außerdem nähren die generativen Sprachmodelle ihr Wissen noch sehr viel von Unausgegorenem aus dem Internet oder den sozialen Medien, was sehr schnell zu einer verzerrten Sichtweise führen kann.

Um die Potenziale menschlicher Fähigkeiten und Kreativität stärker einzubinden und Technologie auch mit sozialem Wohlergehen in Einklang zu bringen, setzt Industrie 5.0 auf drei Säulen:

  1. Der Mensch im Mittelpunkt: Die Idee hinter diesem menschenzentrierten Ansatz, den Schwerpunkt darauf zu setzen, Menschen zu befähigen, mit den Maschinen umzugehen und ihre Potenziale auszuheben.
  2. Nachhaltigkeit: Die Priorisierung der ökologischen Nachhaltigkeit soll Unternehmen helfen, sorgfältiger mit den natürlichen Ressourcen umzugehen, ihren Energieverbrauch –

 nicht zuletzt auch kostensparend – zu senken und die Umwelt zu schonen.

  1. Widerstandsfähigkeit oder Resilienz hilft, auch in Krisenzeiten reibungslos zu funktionieren und flexibel und agil auf Marktveränderungen reagieren zu können.

Manche der genannten Punkte haben sich schon in der Coronakrise und davor manifestiert. Statt mit hoher Arbeitslosigkeit wie Anfang des neuen Jahrtausends hat Deutschland mit einem zunehmenden Arbeits- und vor allem Fachkräftemangel zu kämpfen. Die Folge davon ist, dass sich das Kräfteverhältnis von Arbeitgeber zu den Arbeitnehmer:innen oder Suchenden auf dem Arbeitsmarkt umgekehrt hat. Allein das erfordert schon. Unternehmen müssen oder mussten entsprechend lernen, auf die Talente zuzugehen und mehr auf ihre Bedürfnisse einzugehen, Stichworte bessere Förderung und Work-Life-Balance etwa. Die rasante Automatisierung hat dazu geführt, dass besonders Fabrikarbeiter:innen sich nicht mehr wertgeschätzt sahen und Schwierigkeiten hatten, sich auf neue Rollen einzustellen, wie Reiß es formuliert.

 

Qualifizierung und Requalifizierung tun Not

Ihm zufolge wird es jetzt aber darum gehen, das antagonistische Verhältnis zwischen Mensch und Maschine zu einem kollaborativen zu verwandeln, auch so ein Schlagwort, das gerade in der Pandemie eine immer größere Rolle spielte. Damit geht auch die Forderung oder Empfehlung einher, die Mitarbeitenden zu ermuntern, neue Fähigkeiten und Technologien zu erlernen, um zu einer Kooperation oder Kollaboration zu kommen. Wichtig wird dabei aber sein, konkrete Pläne zu erstellen, die den ungleichen Zugang zu Technologie und  Qualifikationslücken berücksichtigen. Umschulung und Weiterbildung auch mit Blick auf Soft Skills werden dabei nicht ausbleiben können in den Unternehmen. Denn sonst besteht die Gefahr, dass Einzelne auf der Strecke bleiben und den Weg zu einer neuen industriellen Fertigung nicht mitgehen können.

Der Fokus bei Industrie 5.0 liegt aber auf Nachhaltigkeit, die sich durch geringere Energie-, Produktions- und Wartungskosten bezahlt machen kann und auch die Idee einer neuen Kreislaufwirtschaft beinhaltet, weg von der Wegwerfmentalität, hin zu Recycling und Wiederverwendbarkeit sowie hin zu IoT-gestützter Überwachung des Energieverbrauchs und KI-gestützten Analysetools und der additiven Fertigung, im Volksmund auch „3D-Druck“ genannt.

BMW hat 2013 in seinem US-Werk in Spartanburg erstmals Mensch und Maschine ohne schützende Absperrgitter nebeneinander arbeiten lassen. Der Trend geht heute tatsächlich zu kollaborativen Robotern oder Cobots. In der Großserienproduktion lassen die sich zum Beispiel einsetzen, um halb maschinell, halb manuell Teile oder ganze Produkte herzustellen. Das erfordert aber vielfach auch menschliches Eingreifen für die Neukonfiguration und Neuprogrammierung der Cobots, wenn es darum geht, plötzlich unterschiedliche Teile in Serie zu fertigen.

Digital Twins oder Digitale Zwillinge sehen viele so wie Reiß auch als wichtige Pfeiler einer zukunftsfähigen Industrie. Und in anderen Prognosen sind diese auch als eine der zehn wichtigsten Digitaltrends genannt. Die NASA hat sie zwar schon in den 1960ern eingesetzt, um Raumfahrzeuge zu spiegeln beziehungsweise Abbilder davon zu schaffen, aber erst seit dem Cloud-Zeitalter stehen für Anwendungen in der Breite genügend Rechen- und Datenkapazitäten zur Verfügung, um ganze Produktionsanlagen oder gar Städte als Digital Twin abzubilden. Der Vorteil für Industrieunternehmen liegt unter anderem darin, von teuren physischen zur virtuellen Prototypen zu kommen, um Neuerungen auszuprobieren und testen zu können. Aus der Sicht von Enterprise Asset Management, dem Bereich, für den Reiß als Vertriebsdirektor bei Hexagon verantwortlich ist, können Digitale Zwillinge eine wichtige Rolle für Produktionsunternehmen spielen, weil sie helfen, den Wert ihrer Anlage über den gesamten Lebenszyklus hinweg zu maximieren, durch den Einsatz von IoT-Sensoren etwa, die ihre Daten dann in Echtzeit zur Analyse weiterschicken, um Wartungspläne zu optimieren.

Fazit: Ob die Industrie wirklich schon so weit ist, Industrie 5.0 anzunehmen, ist die Frage. Aber Industrie 4.0 kam vielen Produktionsunternehmen anfangs ja auch nur wie böhmische Dörfer vor, bevor sie die einen oder anderen Ideen für ihren Erfolg aufgegriffen haben. So wird es wohl auch mit der Version 5.0 kommen. Und wie dieser Artikel zeigt, gehen Prognosen von Gartner und Co. auch schon in die Richtung, ohne explizit von Industrie 5.0 zu sprechen.